Wenn Eltern mutig sind neue Wege zu gehen
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Wenn Schüler auf eine Sudbury Schule wechseln, ist eine der schwierigsten Herausforderungen, der sie gegenüberstehen, der Übergang von der bisherigen Schulstruktur zu einer, in der sie selbst für ihre Bildung verantwortlich sind.
Anders als in Deutschland gibt es in Frankreich keine Schulpflicht. Gut für André Stern, findet er. Stern, heute 38 Jahre alt, wurde weder von Lehrern noch von seinen Eltern unterrichtet. Er war nur getrieben von Lust und Laune. Auf WELT ONLINE erzählt Stern, warum er davon überzeugt ist, dass jedes Kind so lernen kann.
Ich war nie in der Schule. Nie. Andere erzählen, dass sie Angst vor Schulaufgaben und unangekündigten Tests hatten, dass sie sich den Zitronensäurezyklus oder den Hexameter in den Kopf prügeln mussten und dann auch noch im Sportunterricht als Letzte in eine Mannschaft gewählt wurden. Ich kenne das alles nicht. Ich hatte eine glückliche Kindheit.
(Diesen Artikel finden Sie hier im Archiv von Welt Online. André Sterns Buch über seine Kindheit lautet „...und ich war nie in der Schule. Geschichte eines glücklichen Kindes“, erschienen im Zabert Sandmann-Verlag, ISBN: 3898832287)
Mein Name ist Michael Sappir.
Ich bin 19 Jahre alt und wohne zurzeit in Leipzig. Aufgewachsen bin ich jedoch in Jerusalem (Israel), wo ich auch geboren wurde. Etwa ein Jahr nach meinem Schulabschluss bin ich dann nach Leipzig gezogen.
Die Schule, die ich besucht habe, hat noch vor ihrer Gründung angefangen, mein Leben zu verändern.
Als ich zum ersten Mal vom Sudbury-Modell hörte, war ich ein unglücklicher 13-Jähriger. Die Hauptursache für mein Unglücklichsein, das schon seit mehreren Jahre anhielt, war die Schule. Als eine Freundin der Familie meiner Mutter über das Sudbury-Modell erzählte, und dass sie an der Gründung einer solchen Schule in Jerusalem mitarbeitete, wurden wir beide sofort hellhörig. Bald hatten wir uns dem Gründungskomitee angeschlossen.
Seit Jahren hatte für mich „Schule“ nichts außer Langeweile und Schikane bedeutet – und plötzlich fand ich mich in Gründungssitzungen wieder, die bis tief in die Nacht andauerten. Ausgerechnet, um eine Schule zu gründen.
Sudbury-Schulen sind vollkommen anders als die Schulen, die ich früher besucht hatte. Die Schule wurde nach fast einjähriger Vorbereitung eröffnet, und jeden Tag der nächsten vier Jahre ging ich glücklich dorthin. Sudbury Jerusalem gab mir die Zeit und den Raum, die ich brauchte, um mich kennen zu lernen, um herauszufinden, was ich tun wollte. Ich wünschte bloß, ich hätte dort noch mehr Zeit verbringen können.
Während der vier Jahre auf der Sudbury-Schule in Jerusalem habe ich mich viel mit administrativen Aufgaben beschäftigt. Meine Schule war mir derart wichtig, dass ich sicherstellen wollte, dass alles glatt lief.
In der übrigen Zeit habe ich Dinge getan, die die Schüler an herkömmlichen Schulen nur während der Pausen tun dürfen: Ich habe mich mit Freunden unterhalten (wovon einige zufällig auch erwachsene Mitarbeiter der Schule waren, die anderen Mitschüler), ich habe Bücher gelesen und Musik gehört, ich habe geschrieben und gespielt. Viel Zeit habe ich einfach mit „Nichtstun“ verbracht – und dachte dabei nach.
Während ich diesen Tätigkeiten an der Sudbury-Schule in Jerusalem nachging, habe ich viel mehr gelernt, als in diesem Brief zusammengefasst werden könnte. Der volle Umfang dessen wird mir erst allmählich klar.
Seit jeher hatte ich eine Neigung zur Innenschau und zum Nachgrübeln. In dem Alter von fünfzehn habe ich dann entdeckt, dass es sogar einen Berufszweig gibt, der auf dieser Fähigkeit basiert – genannt Philosophie. Außerdem erwachte mein Interesse an Deutschland, woher meine Großmutter stammte. Ich habe mich dann entschieden, nach Deutschland zu gehen und Philosophie zu studieren. Zu diesem Zweck habe ich Deutsch gelernt und das bagrut absolviert, die israelische Entsprechung des Abiturs.
Pläne tendieren dazu, sich zu ändern – dies stellt eine wichtige Lebenslektion dar. Einige Monate nach meinem Umzug nach Deutschland habe ich mich entschieden, dass ich nicht mehr Philosophie, sondern Linguistik studieren möchte. Einfach, weil ich sie interessant – gar faszinierend – finde.
In einer Sudbury-Schule lernt man, seinem Instinkt zu folgen, jenen Interessen nachzugehen, die dem Herzen am nächsten sind. Alle Kinder werden neugierig geboren. Kinder, die Sudbury-Schulen besuchen, bleiben oft neugierig.
Meine jüngeren Geschwister besuchen immer noch die Sudbury-Schule in Jerusalem. Ich kann sie nur darum beneiden, dass sie mehr Jahre dort verbringen können, als ich es konnte. Am besten finde ich, dass mein kleiner Bruder niemals eine andere Schule besuchen musste. Er ist der glücklichste und neugierigste kleine Kerl, den ich je kennen gelernt habe.
Die Sudbury-Schulbildung kann ich nur wärmstens befürworten. Ich habe viel Energie aufgewendet, sowohl im Vorfeld als auch während und nach meiner Zeit in der Sudbury-Schule Jerusalem, um diese Schulform zu unterstützen und zu verbreiten. Ich möchte Sie um Ihre aktive Unterstützung bitten – oder zumindest, dass Sie es Ihren Kindern ermöglichen, in einer Sudbury-Schule das freie Lernen und Entdecken zu erfahren.
Michael Sappir,
Leipzig, 26.05.2008
Von Mimsy Sadofsky, Mitgründerin, Mitarbeiterin und Elternteil Sudbury Valley School:
Im Laufe der Jahre haben wir festgestellt, dass die Eltern, die sich dafür entscheiden, ihre Kinder auf die Sudbury Valley School zu schicken, sehr wenig mit einander gemeinsam haben. Sie scheinen nicht derselben sozio-ökonomischen Klasse anzugehören. Im Grunde lassen sich die meisten Eltern überhaupt nicht „klassifizieren“; bei den wenigen Informationen, die wir von ihnen erheben, ist das sicherlich auch gar nicht möglich. Es gibt jedoch eindeutig stets mehr Eltern, die Mühe haben, unser bescheidenes Schulgeld zu bezahlen, als Eltern, denen es leicht fällt.
Auch zu Hause haben diese Eltern auf allen Gebieten recht unterschiedliche Vorstellungen, welches Verhalten angemessen ist und welches nicht; zumindest erzählen sie und ihre Kinder uns das so.
Sehr oft handelt es sich um Eltern, die ihre Kinder normalerweise nicht auf Privatschulen schicken würden; das heißt, sie gehören zu jenen, die finden, dass Privatschulen einen Beigeschmack von Elitismus haben, und diesen Beigeschmack finden sie unangenehm.
Gemeinsam ist unseren Eltern aber das überwältigende Verlangen, für ihre Kinder das bestmögliche zu tun. Auch wenn sie vielleicht nur durch den Druck ihrer Kinder die Methoden des öffentlichen Schulwesens in Frage stellen, sind sie mit der heute üblichen Kindererziehung und Bildung nicht einverstanden.
Wir haben immer wieder umfassend darüber geschrieben, wie es Kindern erging, die ihre Schulzeit ganz oder teilweise an Sudbury Valley verbracht haben. Es hat sich auch sehr deutlich gezeigt, dass deren Eltern das eigene Leben ähnlich untersuchen wie auch jeder Sudbury-Valley-Schüler im Laufe der Zeit sein eigenes Leben untersuchen muss. Das genügt schon, um viele Eltern zu verschrecken, die nicht bereit sind, diese Herausforderung anzunehmen. Diese Bereitschaft, das eigene Leben völlig neu zu überprüfen, ist wohl eine der wenigen Verallgemeinerungen, die wir über unsere sehr individualistischen Eltern treffen können.
Sagen wir also, jemand hat sich mit der Philosophie von Sudbury Valley eingehend beschäftigt, vertraut der Neugier und dem Urteilsvermögen seines Kindes, und entscheidet, dieses Kind einzuschreiben. Nun hofft man, mit der Einschreibung hätten die Befürchtungen ein Ende; man hofft, die Entscheidung, volles Vertrauen in das Urteilsvermögen des Kindes zu setzen, bedeutet für die Eltern eine Erleichterung. Und sie sind tatsächlich erleichtert. Aber ebenso auch nicht. Auf einem informellen Treffen der Jahresversammlung sagten Eltern eines Teenagers in dessen zweitem Jahr an Sudbury Valley zu den anderen Eltern:
"Für unseren Sohn ergab die Philosophie dieser Schule so viel Sinn, dass hierher zukommen, ihm gleich in Fleisch und Blut übergegangen ist. Für uns allerdings – langsame Lerner, die wir sind – war die Entscheidung weit mehr eine Tat des Glaubens als des Verstandes. Durch die Werte unserer Eltern, unsere eigenen Bildungserfahrungen und die vorherrschende heutige Denkweise geformt, war klar, dass wir uns von vielen festverwurzelten Erwartungen an das, was Bildung sein sollte, würden trennen müssen, wenn wir „gute“ SVS-Eltern sein wollten.
Wir mussten uns mit dem vertraut machen, was nach unserem Empfinden das Wichtige an einer Schule ist, und den Rest außer Acht lassen. Diese Neuorientierung ist nicht einfach gewesen und bot eine Reihe erschreckender Momente, wie auch einige sehr glückliche. Mir ist klar geworden, dass in vielerlei Hinsicht Hoffnung bloß die Kehrseite von Furcht ist. Wir hoffen, es möge etwas Gutes geschehen, und fürchten gleichzeitig, dass es anders kommen wird. An manchen Tagen liegt die eine Seite der Münze oben, und an anderen die andere. Unter anderem das macht es zu einer ziemlich aufregenden Fahrt in der Gefühls-Achterbahn, besonders im Fall der SVS."
Niemand von uns lebt im luftleeren Raum. Jeder hat Freunde, Verwandte, Eltern, manchmal noch andere Kinder, die das Gefühl haben, wenn man einem Schüler so viele Freiheit lässt, würde man ihm damit sagen, einem wäre gleichgültig, was mit ihm geschieht. So gut wie jeder trifft an seinem Arbeitsplatz oder in seiner Nachbarschaft auf Leute, die eine so mutige Entscheidung als Verzicht auf elterliche Verantwortung ansehen. Und die selben Leute, die Bedenken haben mögen, jemanden zu kritisieren, wenn sie denken, dessen Kind werde zu lange gestillt, oder zu früh in die Tagespflege gegeben, oder nicht gezwungen, nachts durchzuschlafen, haben kein Problem damit, eine Menge Zeit damit zu verbringen, die Bildungsphilosophie zu verunglimpfen, mit der in Einklang zu kommen, die Eltern an Sudbury-Schulen sich so sehr bemühen.
Teilweise ist das tröstlich. Es eröffnet viele Gelegenheiten für Diskussionen. Teilweise ist es das aber auch nicht, weil viele Leute, mit denen man diese Diskussionen führt, von sehr wenigen Informationen ausgehen und nicht viel darüber nachdenken oder von dem ausgehen, was du ihnen ohne Erfolg erzählt hast. Oder sie gehen mit einer Einstellung in die Diskussion, von der aus viele ihrer Überzeugungen bedroht sind. Jeder der Eltern kennt viele Leute, die felsenfest davon überzeugt sind, dass jene Struktur der Bildung, die ihnen am vertrautesten ist – und das ist fast immer im wesentlichen jene Struktur, in der sich heute die meisten Kinder befinden – dass diese Struktur die einzig mögliche ist, die garantiert, dass wir nicht eine Generation von Wilden produzieren, ungebildeten Wilden obendrein. Sie fühlen sich bedroht von dem Gedanken, die Erwachsenen würden ihre Herrschaft und Kontrolle verlieren, worauf so eine „freie“ Schule ja gegründet ist.
Aber natürlich fühlen auch wir Eltern uns bedroht. Wir sind den Angriffen all jener anderen ausgesetzt, die uns für verrückt halten, aber auch unseren eigenen Ängsten. Es ist sehr einfach, abstrakt zu sagen: „Klar, ich weiß, dass meine Kinder, während sie aufwachsen, ständig damit beschäftigt sind, etwas zu lernen. Ich begreife das als die menschliche Bestimmung.“ Aber das ist nicht so einfach, wenn die Dinge, mit denen dein Kind die Zeit verbringt – Nintendo zu spielen, im Baum zu spielen oder monatelang über Magic Cards zu brüten –, überhaupt nicht wie das aussehen, das du in dem Alter getan hast, und wenn niemand von ihnen verlangt, dass sie die Hauptstädte der Bundesstaaten lernen, oder wie man einen Satz in seine grammatischen Einzelteile zerlegt.
Ein Kind auf eine solche Schule zu schicken, ist tatsächlich eine mutige und immer noch fast einzigartige Entscheidung. Wir alle wollen, dass unsere Kinder ein noch besseres Leben haben als wir es hatten, egal wie gut unseres war.